Interview mit Werner Schulz

In diesem Jahr jähren sich mehrere Meilensteine der Wende aus dem Jahr 1989. Was sollte die Öffentlichkeit diskutieren?

1989 muss in unser gemeinsames Gedächtnis gelangen. Wir haben damals große europäische Werte auf gewaltlose Weise wiederbelebt. Die Menschen sind nicht auf die Barrikaden gegangen, sondern an die Runden Tische. 200 Jahre nach dem gewaltsamen Sturm der Bastille wurde das Stasi-Gebäude in Leipzig mit Kerzen umstellt. Die Tschekisten standen Gewehr bei Fuß und waren sprach- und machtlos, weil sie nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollen. Sie hatten mit allem gerechnet; damit, dass die Türen eingetreten und sie verhaftet werden. Aber nicht damit, dass da Kerzen aufgestellt werden. Sie waren darauf trainiert, das Leben anderer Leute auszublasen. Aber nicht Kerzen. Diese Revolution war ein zivilisatorischer Fortschritt für uns alle.

Und dennoch feiern wir nicht die Revolution, sondern die Einheit.

Die Revolution ging in eine nationaldemokratische Bewegung über. Es heißt heute immer, der Satz »Wir sind ein Volk« sei aus dem Satz »Wir sind das Volk« entstanden. Das stimmt so nicht. Er wurde anfänglich von den Demonstranten des Neuen Forums gerufen, die den Sicherheitskräften sagen wollten, dass sie dazu gehören, dass sie keine Feinde, sondern ihre Landsleute sind. Erst nach der Öffnung der Mauer ist dieser Satz umgedeutet worden. Von da an ging es um die Deutsche Einheit. Es sind dann Illusionen genährt worden. Viele hatten ein Bedürfnis nach einer schnellen Lösung. Wenn erst die Deutsche Einheit und die D-Mark kommen, hieß es, sind die Probleme gelöst. Die großen westlichen Parteien haben das noch verstärkt. Besonders Helmut Kohl hat gesehen, dass er sich so an der Macht halten kann. Er hat die Einheit als Wahlkampfrennen veranstaltet, die »Allianz für Deutschland« ausgerufen. Das klang nicht umsonst nach einer großen Versicherungsgesellschaft, die alle Risiken abdeckt.

»Diese Revolution war ein zivilisatorischer Fortschritt für uns alle.«
Werner Schulz Foto: Stephan Röhl (CC BY-SA)

Heute heißt es, man habe die Einheit schnell herbeiführen müssen, bevor in der Sowjetunion die Zeichen wieder auf Konfrontation gestanden hätten

Das stimmt so nicht. Zwar verschwand Gorbatschow, aber danach kam Jelzin. Wir hätten Zeit gehabt, die Deutsche Einheit zu vollenden. Die Deutschen hätten eine gleichberechtigte Wiedervereinigung nach § 146 des Grundgesetzes herbeiführen müssen. Stattdessen wurde die DDR einfach angeschlossen. Man war damals in Westdeutschland nicht bereit zur Inventur, zum Aussortieren, um das Beste aus beiden Ländern zusammenzubringen.

Was entgegnen sie SPD-Chef Müntefering, der jetzt eine neue gemeinsame Verfassung fordert?

Das ist billiger Wählerfang. 1990 gab es in der Volkskammer eine große Koalition aus SPD und CDU. Sie war es, die den Verfassungsentwurf des Runden Tisches abgelehnt und sich unserer Forderung nach einer Einigung auf Grundlage einer neuen Verfassung verweigert hat. Selbst Wolfgang Schäuble sagte einmal, man hätte sich einer neuen Verfassung nicht in den Weg stellen können, hätte die damalige Volkskammermehrheit sie gefordert. Mich freut Münteferings verspätete Erkenntnis, doch mich ärgert seine Geschichts- und Verantwortungsvergessenheit.

Gibt es denn eine Chance, jetzt noch eine neue Verfassung herbeizuführen?

Ich sehe das zurzeit nicht. Wenn der Chef einer 25-Prozent-Partei so etwas fordert, heißt das noch lange nicht, dass wir in der Nähe einer verfassungsändernden Mehrheit sind. Gleichwohl: Ich fände es auch heute noch richtig. Damals sind riesige Chancen vertan worden. Hierzu wäre auch der Bundespräsident als oberstes Verfassungsorgan gefragt, der sich ja mal für die Direktwahl des Bundespräsidenten ausgesprochen hat. Es wäre gut und hilfreich, wenn Horst Köhler vor der jetzt anstehenden Wahl erklären würde, wie denn der Artikel 146 – das GG gilt bis das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen hat – jemals eingelöst werden soll.

Welche Chancen sind es, die vertan wurden?

Warum zum Beispiel hat man damals nicht den 9.11. zu unserem Nationalfeiertag gemacht? Er entspricht uns Deutschen wie kein anderer. Er zeigt unseren komplizierten Weg zu einer demokratischen Nation, auch die dunklen Kapitel unserer Geschichte, die wir nie vergessen dürfen. Dieser Tag zieht den Jahrhundertweg: 1918 die Ausrufung zweier Republiken. Dann der Marsch auf die Feldherrenhalle in München, die Gründung der SS, die Reichspogromnacht. Und schließlich das freudige Happy End, die friedliche Revolution 1989.

Warum ist die Euphorie, die die Deutschen 1989 empfunden hatten, in den Neunzigern so schnell verschwunden?

Es ist etwas sehr kompliziertes geschehen: ein kompletter Systemwechsel. Manche haben das gut verarbeitet, viele andere nicht. Es ist herb zu erleben, wie viele eine Entwertung ihrer Qualifikationen erlebt haben, weil sie nicht die Chance hatten, sich auf diesen rasanten Prozess einzustellen. Unglaublich viele Betriebe und Forschungseinrichtungen sind einfach abgewickelt worden.

Heute diskutiert man, dass man Opel halten sollte, um einen wichtigen industriellen Kernbereich zu schützen. Genau das wäre damals im Osten nötig gewesen! Stattdessen hat man alles in die Wühlkiste geworfen. Jeder konnte sich rausnehmen, was er für gut hielt. Die Filetstücke wurden herausgeschnitten, der Rest verramscht und verworfen.

Hat das die Ostdeutschen gedemütigt?

»Der Westen war nicht bereit, auf seiner Seite irgendetwas in Frage zu stellen.« Man hat zu keinem gemeinsamen Projekt gefunden. Der Westen war nicht bereit, auf seiner Seite irgendetwas in Frage zu stellen. Im Osten führte das zu einem Gefühl der Demütigung, ja. Viele haben sich wie Bürger zweiter Klasse gefühlt, wie Falschgeld nach der Währungsunion. Dabei haben sie Erfahrungen eingebracht, auf die sie stolz sein können. Etwa jene, aus eigener Kraft eine Diktatur gestürzt und die Freiheit errungen zu haben.

Wir schauen heute begeistert in die USA und sind eingenommen von der Obama-Euphorie, von diesem Optimismus in einer schwierigen Situation. Aber genau das hatten wir 1989 auch! Die Menschen haben 1989/90 auf den Straßen getanzt. Sie haben die Grenze durchbrochen und waren bereit, ihre ganze Kraft, ihre ganze Kreativität in ein erneuertes Deutschland einzubringen. Welch eine Chance war das! Wieso hat die Politik das damals so vermasselt? Zwei Jahre später hieß das Wort des Jahres: Politikverdrossenheit. Wie konnte in solch kurzer Zeit eine solche Enttäuschung, ein derart sauertöpfisches Schlechte-Laune-Syndrom entstehen?

Was konkret hätte man denn unmittelbar aus dem Osten übernehmen sollen?

Vieles aus dem Bildungssystem zum Beispiel. Wir Deutschen sind nach der Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie nach Finnland gefahren, um den Testsieger zu analysieren. Die Finnen sagten: Wieso kommt ihr hierher? Wir haben das aus der DDR übernommen. Man hat dort das Prinzip der Polytechnischen Oberschule eingeführt. Natürlich ohne Fahnenappell und den ideologischen Kram. Aber mit dem Prinzip des Gemeinsamen Lernens, der vorschulischen Ausbildung, der berufspraktischen Nähe. Wir hätten das viel leichter und unmittelbar haben können.

Irgendwann werden die Zeitzeugen der Revolution verschwinden. Was sollten sie weitergeben?

Zunächst mal das Gefühl, wie wertvoll Demokratie und Freiheit sind. Dann ihre Erfahrungen mit dem Wirtschaftssystem. Ich fürchte, dass wir in nächster Zeit viele krude, neosozialistische Forderungen hören werden, weil plötzlich viele glauben, der Staat müsse alles regeln. Sie können eine Wirtschaft aber nicht zentral steuern und planen, das haben wir jahrzehntelang erlebt. Der Staat muss zwar eingreifen und regulieren und vernünftige Wettbewerbsbedingungen sichern. Doch die soziale Marktwirtschaft ist vor allem auf die Kreativität ihrer Wirtschaftsakteure angewiesen.

Zum Thema Russland: Es gibt hierzulande oft die Vorstellung, ein Land wie Russland brauche eine harte Hand, eine Diktatur.

Das ist gefährlicher Unsinn. Der Wunsch nach geordneten Verhältnissen hat in Deutschland zur Machtübernahme Hitlers geführt. Die Russen haben keine demokratischen Traditionen. Dass Stalin heute wieder auf Platz drei auf der Liste der populärsten Russen steht, gibt einem zu denken. Es hat keine systematische Aufarbeitung und Abrechnung mit dem Kommunismus gegeben. In Russland muss man sich zudem mit etwas abfinden, das in Europa bereits 1918 passiert ist: Das Ende der großen Kaiserreiche. Vielen Russen sind die neuen Grenzen noch nicht bewusst oder sie wollen es nicht akzeptieren, dass Georgien, die Ukraine, Weißrussland nicht mehr dazu gehören. Dass es das Imperium Sowjetunion nicht mehr gibt. Das ist ein schwieriger Prozess. Russland befindet sich in etwa in einem Entwicklungsstadium, in dem sich Deutschland während der Weimarer Republik befunden hat. Wir müssen dafür sorgen, dass es keine weiteren Kriege wie den mit Georgien gibt.

Einige Beobachter – Altkanzler Schmidt zählt zu Ihnen – meinen, wir hätten nicht das Recht, in Ländern wie Russland zugunsten demokratischer Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Sie pochen auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

Davon halte ich nichts. Die »Nichteinmischung« war auch ein Hauptargument der DDR, Kritik an Menschenrechtsverletzungen abzublocken. Mittlerweile werden kritische Journalisten in Russland wie Freiwild abgeschossen und wieder Schauprozesse inszeniert. Uns steht das Recht zu, darüber zu reden und die Kräfte zu unterstützen, die sich für mehr Demokratie einsetzen.

Das bedeutet, dass wir mit unseren eigenen Erfahrungen und Grundwerten überzeugen müssen. Wir in Europa haben durch Souveränitätsverzicht mehr Sicherheit und Stabilität erreicht. Das müssen wir den Russen nahe bringen, die ihrer alten Stärke nachtrauern und auf die Unabhängigkeit einer neuen Großmacht setzen.

Die EU ist polarisiert, wenn es um Russland geht: Osteuropäische Staaten fordern einen konfrontativeren Kurs, die westlichen eher eine Politik der Mäßigung. Wie sollte die EU Russland begegnen?

Der Dialog darf nicht abreißen, aber er sollte kritisch und ehrlich sein. Es war ein großer Fehler, ausgerechnet in der Georgien-Krise auf das Drängen von Bush den NATO-Russland-Rat auszusetzen. Man hätte ihn stattdessen einberufen müssen, um Russland klarzumachen, dass wir nicht akzeptieren, was dort geschieht. Es muss eine neue Nachbarschaftspolitik mit Russland geben. Dabei geht es um Wandel durch Kooperation, nicht durch Anbiederung, wie er zum Teil durch die deutsche Wirtschaft betrieben wird.

Der russische Staat scheint aber recht kompromisslos den Kurs zu verfolgen, Kritiker zum Schweigen zu bringen.

»Es muss immer klar sein, wofür wir stehen. Nur so können wir Veränderungen erreichen.«

Steter Tropfen höhlt den Stein. Das zeigt auch der Zusammenbruch des Kommunismus. 1975, nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte durch die europäischen Staaten, standen die Prinzipien der Menschenrechte erstmals auf den Titelseiten der kommunistischen Zeitungen. Jeder Bürger konnte sehen, dass es in den kommunistischen Staaten damit nicht weit her war. Deswegen müssen wir an diesen Grundwerten festhalten. Es muss immer klar sein, wofür wir stehen. Nur so können wir Veränderungen erreichen. Ein gutes Beispiel ist Petra Kelly. Sie hat sich mit Erich Honecker getroffen und ihm dabei das Symbol der DDR-Opposition übergeben – Schwerter zu Pflugscharen. Sie gab ihm damit zu verstehen, dass sie die DDR nicht für demokratisch hielt. Honecker war erbost. So klar hatte er das von Franz-Josef Strauß und anderen Staatsgästen nicht gehört.

In genau dieser Deutlichkeit müssen wir auch mit Putin reden. Und da braucht man keine Lupe, um die Demokratiedefizite zu sehen. Andererseits will Russland ja auch etwas von uns. Sie wollen mit uns Handel treiben und eine Partnerschaftsperspektive.

Wie beurteilen Sie eigentlich die Russlandpolitik der schwarz-roten Bundesregierung?

Sie ist widersprüchlich. Ich habe den Eindruck, dass die Kanzlerin andere Schritte macht als der Außenminister. Man merkt, dass Steinmeier noch immer der Schröder-Denklinie verhaftet ist. Er übt keinerlei Kritik an Schröder, obwohl es unverantwortlich ist, was der zurzeit treibt. Stichwort Ostseepipeline, Gasprom, Iran. Da muss ein Außenminister an die Decke gehen. Offensichtlich ist er aber in Übereinstimmung mit seinem ehemaligen Chef und derzeitigen Schattendiplomaten.

Die Kanzlerin macht viele symbolische Schritte, aber ich sehe keine Ergebnisse und keine Konstanz bei ihr. Sie traf zwar russische Oppositionelle. Aber was tut sie konkret dafür, dass die Arbeit von Memorial (einer russischen Menschenrechtsorganisation, Anm. d. Red.) nicht ständig behindert wird? Warum redet sie nicht mit der deutschen Wirtschaft, damit diese Kumpaneigeschäfte mit Russland unterbleiben? Was hat sie in der Pipelinefrage versucht? Es müsste deutlich mehr passieren.

21. April 2009